Das Leben schreibt manchmal auch schöne Geschichten. Diese hier wollte ich schon lange erzählen, sie ist herausragend und gehört eigentlich verfilmt. Allerdings fängt sie nicht gut an.
Im Jahr 2009 verteidigte ich einen Mann, der wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz (BtMG) in Haft saß, ich nenne ihn hier H. H. war seit 25 Jahren Drogenkonsument und hatte so ziemlich alle gängigen Drogen konsumiert (Haschisch, Kokain, Alkohol, Crack), in den letzten 15 Jahren auch Heroin. All das sah man ihm deutlich an, sein Gesicht sah aus wie ein mit Haut überzogener Totenschädel. Er würde nicht mehr lange machen, das war klar. Die Beweislage in der Sache ließ eine Verurteilung und eine mehrjährige Freiheitsstrafe erwarten.Ich überredete H. dazu, sich auf eine Langzeit-Drogentherapie in Form einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt einzulassen (§ 64 StGB). Das kostete mich einiges an Überredungskunst, denn die sogenannte „Zwangstherapie“ ist bei vielen Inhaftierten nicht sehr beliebt. Sie dauert in der Regel länger als eine Therapie nach § 35 BtMG und stellt wesentlich höhere Anforderungen an den Abhängigen. Für Schwerstabhängige wie H. ist sie allerdings alternativlos. Das sah H. auch schließlich ein.
H. wurde 2009 vom Landgericht Mannheim zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren 6 Monaten verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet. 2010 trat er die Therapie im ZfP Calw an.
In der Therapie begann er mit Sport und gründete gemeinsam mit Patienten und Pflegern eine Laufgruppe, die anfangs auf dem Klinikgelände trainierte, später auch im Schwarzwald. Schon 2010 nahm er an seinem ersten Wettkampf teil, einem Volkslauf über 5 km. Es folgte ein weiterer Volkslauf über 10 km. Weitere Wettkämpfe kamen 2011, über 10, 15, 20 km. Nach seiner Entlassung aus der Therapie im Jahr 2011 lief er den Mannheim Marathon und finishte in 4:40 h. Ich sah ihn damals bei der Abholung der Startnummer und erkannte ihn nicht mehr wieder. Aus dem ehemaligen Drogenwrack war ein komplett durchtrainierte Athlet geworden.
Noch im Jahr 2011 verbesserte er seine Marathon-Zeit beim Bottwartal-Marathon auf 4:14 h. 2012 knackte er die 4-Stunden-Grenze und lief den Mannheim Marathon in 3:59 h. 2012 folgte der Frankfurt Marathon, den er mit der grandiosen Zeit von 3:34 finishte.
Eine Sehnenverletzung zwang ihn dann allerdings dazu, die Laufumfänge zu reduzieren. H. stieg verlegte sein Training aufs Rad, 2011 hatte er sich sein erstes Rennrad gekauft.
2013 finishte er den Black Forest Ultra Trail (2 Tage, 92 km, 4.250 HM) in 11:14 h, den Pfalztrail (85,9 km) in 12:50 h. Die Liste geht endlos so weiter und ich zähle nur einige der in den Folgejahren absolvierten Rennen auf:
- 2014 RömerMan Ladenburg (Triathlon): Staffel/Rad: 4. Platz in der Gesamtwertung.
- 2014 Chiemgauer100 (Berg-Ultralauf): 17:39 h.
- 2015 Keufelskopf (Ultra-Trail-Lauf): 11:49 h.
- 2015 Chiemgauer100 (Berg-Ultralauf): 16:47 h.
- 2016 Keufelskopf (Ultra-Trail-Lauf): 10:33 h.
Daneben machte H. die Trainerlizenz Leistungssport für Rennrad und Mountainbike und übernahm bei einem örtlichen Radverein das Rennradtraining.
Ich habe noch oft an unser erstes Zusammentreffen zurückgedacht und freue mich immer wieder aufs Neue über die Wendung, die das Leben für ihn genommen hat. Heute sind wir Freunde. Wir sind einmal zusammen Rennradfahren gewesen, H. fuhr die die Berge in einer unglaublichen Geschwindigkeit hoch. Bei einer kurzen Pause sagte er „Klar, das mit dem Sport ist eine Suchtverlagerung. Aber das ist in Ordnung.“ Und damit hat er recht.